Auf dieser Seite werden Berichte von Canditter Landsleuten und Landsleuten aus den umliegenden Ortschaften gebracht. Es sind Begebenheiten aus der Kindheit und Jugendzeit in der Heimat, aber auch aus der Zeit danach.
Die Berichte werden in lockerer Folge gezeigt und in gewissen zeitlichen Abständen ausgetauscht. Hier nun einige Textbeiträge:
Liebnicken, Kreis Preußisch Eylau
Von Erich Pelikan aus „Ostpreussens Rinder und ihre Zuchtstätten“
Liebnicken ist zur Zeit des Ritterordens den Ordensbrüdern Raffael und Nickel verliehen worden mit der Auflage, „die 32 wüste Huben“ von Sangnitten zu besiedeln.
Liebnicken liegt 150 m über NN im Stablackgebiet am Fuße des Hasenberges, ist systematisch dräniert und hat schwersten Weizenboden.
Ich kaufte im Herbst 1919 bei der Parzellierung die Hofstelle mit 212 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche, davon 25 ha beste Wiesen, 4 ha Holzungen, der Rest Weiden und Ackerland. Lebendes Inventar waren damals: 23 Kühe, 42 Sauen, 24 räudige Gespannpferde und etwas Jungvieh. Kaufpreis 70.000,- Mark.
Am 15. Februar 1945, als der Armeebefehl zum Räumen kam, blieben zurück: 62 Herdbuchkühe (mit rund 4200 Liter Milch Herdendurchschnitt), 40 ein- und zweijährige Sterken, 16 Jungbullen, 1 Zuchtbulle und eine Anzahl Kälber, 10 Edelschweinstammsauen (Stammzucht gegründet 1872), ca. 50 Jungeber und Jungsauen, 24 Gespannpferde (davon 12 Mutterstuten) und zwei Jahrgänge Kaltblutfohlen. Wo das ganze Inventar geblieben ist, weiß ich nicht. Als ich in der letzten Nacht vom Hofe ritt, lag das ganze Vieh draußen im Schnee und in den Stallungen war Militär.
Das war das Ende einer 700-jährigen Kulturperiode-und der Arbeit vieler Generationen.

Meine Fluchterlebnisse (von Christel Stoltenberg)
I. Teil
Es war der 02. Februar 1945 abends. Wir sahen von unserem Hof her die vielen Fahrzeuge durch Canditten ziehen, alle westwärts und alle auf der Flucht oder auf dem Rückzug. Zu der Zeit arbeitete ein Pole bei uns, der uns geraten hatte, uns so schnell wie möglich auf die Flucht zu begeben.
Mein Vater Fritz Lehmann (* 04. 02. 1895, † 13. 10. 1971) war kurz zuvor noch eingezogen worden und zusammen mit Max Hoffmann, ebenfalls Bauer in Canditten, als Aufseher für die französischen Kriegsgefangenen eingesetzt.
So sind denn an diesem Abend des 02. Februar 1945 meine Mutter Elise Lehmann, meine Schwester Edith Lehmann, mein Bruder Erich Lehmann (* 20. 04. 1924, † 25. 03. 1946) und ich mit der Nachbarfamilie Kohn spät abends mit einem vollgepackten Pferdewagen über deren Hof zur Hauptstraße in Richtung Klein Steegen und Lichtenfeld auf die Flucht in Richtung Heilgenbeil gegangen.

Die Flucht begann vom Hof des Bauern Fritz Lehmann (roter Pfeil) auf der von
Militär und Flüchtlingswagen überfüllten Hauptstraße von Canditten (blaue Pfeile)
(Kartenausschnitt vom Westteil Candittens aus Google Earth)
Die Straße war voll von Wehrmachtsfahrzeugen und zahllosen Treck-Fuhrwerken der Flüchtenden. Da wir mit den Fuhrwerken quasi von der Seite kamen, wollte man uns nicht auf die Straße lassen. Aber schließlich gelang es doch, uns in die endlose Schlange des Trecks einzureihen.
An diesen Abend erinnere ich mich noch gut. Der Nachthimmel nördlich von uns war feuerrot. Es hieß „Königsberg brennt“. Eine aus Neidenburg stammende und bei uns einquartierte Familie nahmen wir auf unserem Pferdewagen mit auf die Flucht.
Noch in derselben Nacht, also vom 02. 02. auf den 03. 02. 1945, sind wir hinter Heiligenbeil auf das Frische Haff gegangen. Nach etwa anderthalb Stunden Fahrt auf dem gefährlichen Eis ist unser Wagen im Eis eingebrochen. Eines der Pferde paddelte bereits hilflos im Wasser, das andere wurde schnell ausgespannt. Wir alle sind voller Schreck und mit letzter Kraft vom Pferdewagen gestiegen, da versank der Wagen bereits im aufgebrochenen Eisloch ins kalte Wasser und mit diesem unser ganzes mitgenommenes Hab und Gut.
Die mitgenommenen 3 Personen aus Neidenburg nahmen jetzt ihren eigenen Weg. Wir sahen sie nie wieder.
Zum Glück fuhr hinter uns die Nachbarfamilie Kohn aus Canditten mit Grete, Gottfried und Hildegard Kohn. Wir schlossen uns mitsamt dem geretteten Pferd und dem Polen, der bei uns gearbeitet hatte, an und marschierten mühsam auf dem Eis zusammen weiter, immer der Frischen Nehrung entgegen.
Am anderen Morgen erreichten wir endlich die Frische Nehrung bei Kahlberg. Es war sonniges Wetter, aber wir hatten keine Zeit zum Ausruhen, denn es ging auf diesem Landstrich immer weiter gen Westen, Tag für Tag und Kilometer für Kilometer, an Danzig vorbei und immer weiter in Richtung Pommern.
Ich kann mich an die Namen der vielen angefahrenen Ortschaften nicht mehr erinnern, durch die wir gezogen sind. Mal hatten wir in Schulen übernachtet, mal in leeren Gutshäusern und manchmal auch unter freiem Himmel, und das bei der klirrenden Kälte.
Auf dem Wagen der Familie Kohn hatten wir uns abwechselnd ein wenig ausgeruht, denn der tagelange Fußmarsch war für uns alle sehr anstrengend.
Immer wieder wurde unser Treck von feindlichen Tieffliegern angegriffen, deren Bordkanonen auf uns schossen und uns in Todesangst versetzten. Das war grausam für uns alle. Aber unsere Familie hatte Glück und wir überstanden diese Angriffe unversehrt.
Eines Tages, es muss zwischen Danzig und Hinterpommern gewesen sein, wurde unser Canditter Nachbar Gottfried Kohn von unserem kleinen Treck abgeholt. Er sollte zum Volkssturm einberufen werden. Wir haben ihn nie wieder gesehen.
Ein weiteres Mal hatten wir Glück, als wir mit der Fähre über die Weichsel mussten und nach uns die Fähre auf eine Mine gefahren war.
Irgendwo in Hinterpommern hatte sich unser Pole von uns abgesetzt. Er ging jetzt seinen eigenen Weg. Auch ihn haben wir nie wieder gesehen. Aber ich muss sagen, er war immer sehr korrekt und fürsorglich zu uns gewesen.
Als wir bei Frankfurt/Oder über die Oderbrücke fuhren, war gerade heftiges Schneetreiben, so dass die Tiefflieger nichts ausrichten konnten. Kurze Zeit danach, so hieß es, sei die Oderbrücke gesprengt worden.
Wir marschierten immer weiter in Richtung Westen, an Schwerin vorbei und weiter über Grevesmühlen, Rehna und Schönberg (alle im westlichen Mecklenburg), bis wir am 16. März 1945 spät abends in dem Dorf Ziethen landeten, das damals noch zu Mecklenburg gehörte und an Schleswig-Holstein grenzte. Hier bekamen wir eine wunderbare Mahlzeit und hier war unser langer Fluchtweg mit den täglichen Ängsten, Strapazen und dem unmenschlichen Chaos beendet.
Inzwischen war unsere Nachbarin Hildegard Kohn wegen einer Verwundung durch die Tiefflieger in ein Krankenhaus bei Dechau/Mecklenburg gekommen, um dort behandelt zu werden. Jetzt war nur noch Grete Kohn von der Nachbarfamilie alleine mit uns. Weil wir kein Fahrzeug hatten, nur das Pferd, durfte unsere Familie bleiben, aber Frau Kohn musste weiterfahren. So trennten sich unsere Wege.
Die Straße war voll von Wehrmachtsfahrzeugen und zahllosen Treck-Fuhrwerken der Flüchtenden. Da wir mit den Fuhrwerken quasi von der Seite kamen, wollte man uns nicht auf die Straße lassen. Aber schließlich gelang es doch, uns in die endlose Schlange des Trecks einzureihen.
An diesen Abend erinnere ich mich noch gut. Der Nachthimmel nördlich von uns war feuerrot. Es hieß „Königsberg brennt“. Eine aus Neidenburg stammende und bei uns einquartierte Familie nahmen wir auf unserem Pferdewagen mit auf die Flucht.
Noch in derselben Nacht, also vom 02. 02. auf den 03. 02. 1945, sind wir hinter Heiligenbeil auf das Frische Haff gegangen. Nach etwa anderthalb Stunden Fahrt auf dem gefährlichen Eis ist unser Wagen im Eis eingebrochen. Eines der Pferde paddelte bereits hilflos im Wasser, das andere wurde schnell ausgespannt. Wir alle sind voller Schreck und mit letzter Kraft vom Pferdewagen gestiegen, da versank der Wagen bereits im aufgebrochenen Eisloch ins kalte Wasser und mit diesem unser ganzes mitgenommenes Hab und Gut.
Die mitgenommenen 3 Personen aus Neidenburg nahmen jetzt ihren eigenen Weg. Wir sahen sie nie wieder.
Zum Glück fuhr hinter uns die Nachbarfamilie Kohn aus Canditten mit Grete, Gottfried und Hildegard Kohn. Wir schlossen uns mitsamt dem geretteten Pferd und dem Polen, der bei uns gearbeitet hatte, an und marschierten mühsam auf dem Eis zusammen weiter, immer der Frischen Nehrung entgegen.
Am anderen Morgen erreichten wir endlich die Frische Nehrung bei Kahlberg. Es war sonniges Wetter, aber wir hatten keine Zeit zum Ausruhen, denn es ging auf diesem Landstrich immer weiter gen Westen, Tag für Tag und Kilometer für Kilometer, an Danzig vorbei und immer weiter in Richtung Pommern.
Ich kann mich an die Namen der vielen angefahrenen Ortschaften nicht mehr erinnern, durch die wir gezogen sind. Mal hatten wir in Schulen übernachtet, mal in leeren Gutshäusern und manchmal auch unter freiem Himmel, und das bei der klirrenden Kälte.
Auf dem Wagen der Familie Kohn hatten wir uns abwechselnd ein wenig ausgeruht, denn der tagelange Fußmarsch war für uns alle sehr anstrengend.
Immer wieder wurde unser Treck von feindlichen Tieffliegern angegriffen, deren Bordkanonen auf uns schossen und uns in Todesangst versetzten. Das war grausam für uns alle. Aber unsere Familie hatte Glück und wir überstanden diese Angriffe unversehrt.
Eines Tages, es muss zwischen Danzig und Hinterpommern gewesen sein, wurde unser Canditter Nachbar Gottfried Kohn von unserem kleinen Treck abgeholt. Er sollte zum Volkssturm einberufen werden. Wir haben ihn nie wieder gesehen.
Ein weiteres Mal hatten wir Glück, als wir mit der Fähre über die Weichsel mussten und nach uns die Fähre auf eine Mine gefahren war.
Irgendwo in Hinterpommern hatte sich unser Pole von uns abgesetzt. Er ging jetzt seinen eigenen Weg. Auch ihn haben wir nie wieder gesehen. Aber ich muss sagen, er war immer sehr korrekt und fürsorglich zu uns gewesen.
Als wir bei Frankfurt/Oder über die Oderbrücke fuhren, war gerade heftiges Schneetreiben, so dass die Tiefflieger nichts ausrichten konnten. Kurze Zeit danach, so hieß es, sei die Oderbrücke gesprengt worden.
Wir marschierten immer weiter in Richtung Westen, an Schwerin vorbei und weiter über Grevesmühlen, Rehna und Schönberg (alle im westlichen Mecklenburg), bis wir am 16. März 1945 spät abends in dem Dorf Ziethen landeten, das damals noch zu Mecklenburg gehörte und an Schleswig-Holstein grenzte. Hier bekamen wir eine wunderbare Mahlzeit und hier war unser langer Fluchtweg mit den täglichen Ängsten, Strapazen und dem unmenschlichen Chaos beendet.

Ein Foto aus besseren Tagen:
Edith Lehmann (links) und ihre Schwester Christel (die Autorin dieses Berichtes)
im Sommer 1944 im Garten von Stellmachermeister Hermann Genz in Canditten (Foto Christel Stoltenberg)
Inzwischen war unsere Nachbarin Hildegard Kohn wegen einer Verwundung durch die Tiefflieger in ein Krankenhaus bei Dechau/Mecklenburg gekommen, um dort behandelt zu werden. Jetzt war nur noch Grete Kohn von der Nachbarfamilie alleine mit uns. Weil wir kein Fahrzeug hatten, nur das Pferd, durfte unsere Familie bleiben, aber Frau Kohn musste weiterfahren. So trennten sich unsere Wege.
Am 08. Mai 1945 erlebten wir die Kapitulation in Ziethen/Mecklenburg, das von den Engländern besetzt war. Kurze Zeit später war das Dorf 3 Monate lang von den Russen besetzt. Aber dank des Austausches einiger Dörfer zwischen Engländern und Russen kam das Dorf Ziethen zu Schleswig-Holstein.
Im Nachhinein betrachtet, hatte unsere Familie trotz des ganzen Unglücks der Flucht irgendwie immer Glück. Wir überstanden den Einbruch im Eis des Haffes, die vielen Tieffliegerangriffe, die riskanten Überquerungen der Weichsel und der Oder und wurden verschont von der sowjetischen Besatzungsmacht, denn wir lebten jetzt in der britischen Besatzungszone.
II. Teil
Mein Vater Fritz Lehmann war im September 1945 aus sowjetischer Gefangenschaft nach Canditten entlassen worden und verbrachte die folgenden 2 Jahre unter schweren Bedingungen in seiner Heimat.
Auf seinem Hof in Canditten im September 1945 angekommen, war dort bereits die Familie Kućko aus Litauen und hatte den Hof belegt. Eine jetzt noch lebende Frau dieser litauischen Polenfamilie, es ist die Uroma der jetzt dort wohnenden jungen Leute, kann sich noch an meinen Vater erinnern.
Mein Vater hatte zunächst auf seinem eigenen Hof in Canditten gewohnt, jedoch musste er kurze Zeit danach bei den Polen in Groß Steegen arbeiten und später bei einem polnischen Polizisten in Landsberg.
In Guttenfeld lebte noch seine Schwester Erna Lemke, geborene Lehmann, und seine Schwägerin Elsbeth Lehmann (Frau seines Bruders Paul Lehmann) mit 2 Kindern und ihrer Mutter. Alle hielten Kontakt zueinander, was ihnen Halt und Hoffnung gab.
Am 13. 08. 1947 wurde mein Vater durch die polnische Repatriierungsbehörde Heilsberg ausgewiesen und damit aus seiner Heimat vertrieben. Nach seiner Ankunft im Westen suchte er seine Familie und seine anderen Geschwister. Bislang hatte er noch kein Lebenszeichen von ihnen. Aber durch intensives Suchen fand er endlich seinen Bruder Hugo Lehmann, der in Hamburg eine Bleibe gefunden hatte und Kontaktadresse für alle Lehmann-Geschwister.
Bei diesem Bruder Hugo Lehmann meldeten sich mein Vater Fritz Lehmann und die übrigen Geschwister. Auf diese Weise organisierte der Bruder Hugo Lehmann, der für uns alle Kontaktadresse war, die Zusammenführung aller 8 Geschwister und deren Familien.
So fand mein Vater dann auch seine eigene Familie. Er kam dann im September 1947 zu uns nach Ziethen. Endlich war unsere Familie wieder zusammen!

Nach dem Krieg wieder vereint:
Der Bauer Fritz Lehmann aus Canditten mit Ehefrau Elisa im April 1950
(Foto Christel Stoltenberg)
III. Teil
Im Jahre 1978 bin ich mit einer Busreise, die eine Reisefirma aus Reinbek organisiert hatte, das erste Mal nach der Flucht in Canditten gewesen. Leider durften wir damals nicht aussteigen. So standen wir mit dem Bus vor dem Westfriedhof (jetzt Ehrenfriedhof) und konnten unseren Hof nur von Weitem sehen und fotografieren.
Ein Jahr später, im Jahre 1979, bin ich mit demselben Busunternehmen wiederum nach Ostpreussen gefahren. Wir waren im Novotel in Allenstein untergebracht. Der polnische Reiseleiter hatte mir einen deutsch sprechenden Taxifahrer besorgt, der mich nach Canditten brachte. Es war ein sonniger Tag. Für mich war es aber ein aufregendes Erlebnis und ich musste allen Mut zusammennehmen, dieses Mal ohne Familie, also ganz alleine auf mich gestellt, mein Elternhaus zu besuchen. Und ich fragte mich immer wieder „Was erwartet mich?“
Auf unserem Hof angekommen, wurde ich dort herzlich von der Familie Kućko empfangen. Das nahm mir alle Anspannung und alle Befürchtungen und ich war erleichtert. Auf dem benachbarten Hof von Richard Tobies wohnte jetzt eine Familie Kompetzki, die schnellstens geholt wurde. Sie waren Deutsche und somit konnten wir uns bestens unterhalten und verständigen. Die Familie Kompetzki ist 1980/1981 als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen.
Als ich auf unserem Hof von meinem Vater Fritz Lehmann erzählte, kam sofort die Antwort von der Familie Kućko „Das war ein guter Mann!“
Seit dieser Begegnung im Jahre 1979 habe ich die Familie Kućko und deren nachfolgenden Generationen noch viele Male besucht. Ich bin ihnen unendlich dankbar, dass sie mich immer wieder einladen und herzlich aufnehmen.
„Hier, wo ich geboren, darf ich sein.“
Christel Stoltenberg, geborene Lehmann, Canditten, jetzt Wentorf bei Hamburg, im Februar 2014

Der ehemalige Hof von Fritz Lehmann (jetzt Familie Kućko)
in Canditten/Kandyty (Foto G. Birth)
Erlebnisbericht aus Klein Steegen Von Marie-Anne Gerlach
Als ich noch in Klein Steegen wohnte, sind wir Marjellens jeden Freitag nach Canditten ins Kino gegangen. Der Arthur Mai (Diener vom Gut Klein Steegen) gab mir immer sein Fahrrad, um nach Canditten zu kommen.
Im Winter ging´s dann zu Fuß ins Kino. Wenn wir dann kurz vor Canditten auf der Anhöhe der Straße standen und es brannte kein Licht im Kinosaal beim Gastwirt Thiel, dann war meistens der Filmvorführer wegen der hohen Schneewehen nicht durchgekommen. Wir mussten dann ohne Kino wieder zurück nach Klein Steegen.
Ein anderes Mal hatte uns ein Bauer auf dem Heimweg im Schlepp (genau: up der Schleup) mitgenommen. Dabei mussten wir uns gegenseitig festhalten. Das war vielleicht ein Hallo und Gejuche und wir hatten unseren Spaß dabei. Ach ja, waren das noch Zeiten!
Als 1945 unsere Heimat unterging:
Die letzten Tage von Canditten
Von Kantor Gustav Glass, niedergeschrieben 1952
Als ich am Morgen des 13. Januar 1945 den Gang zur Schule antrat, vernahm ich das ununterbrochene Grollen des Trommelfeuers von Osten her. Ich begrüßte meine Schüler mit dem Morgengruß und sagte: „Kinder, jetzt wird um unser Schicksal gewürfelt!“ Aus dem Heeresbericht am Abend hörten wir, dass der Russe auf der ganzen Front zur Offensive angetreten sei. Und bereits am 14. 01. durchschwirrten Hiobsbotschaften die Luft. In den folgenden Tagen war es nicht anders und bald hieß es: Labiau brennt! Wehlau und Tapiau werden vom Feinde berannt! Russische Panzer haben Deutsch Eylau in Richtung Elbing durchfahren! Die Spitzen der russischen Panzerkorps haben Domnau erreicht! Der Canditter Volkssturm, alle Männer bis 60 Jahre, wurde zur Verteidigung des „Heilsberger Dreiecks“ beordert. Denen wurde gesagt, vor ihnen stände Infanterie und Artillerie. Erkundungen ergaben aber, dass nichts zur Verteidigung bereitstand. Der verständige Volkssturmführer schickte seine Männer in die Heimatdörfer zurück. Am Montag, dem 22. 01., wurde die Schule in Canditten geschlossen, an der ich mit Freude 39 Jahre unterrichtet hatte. Die Schulräume wurden zur Aufnahme von Flüchtlingen hergerichtet. Am Abend des 22. 01. begann der Flüchtlingsstrom zu rollen, Tag und Nacht von Landsberg kommend bis zum 14. 02. mit Richtung zum Frischen Haff. Es war ein viel größeres Elends- und Schreckensbild als im Jahre 1914.
Wagen hinter Wagen, die mehr oder minder ein Schutzdach aus Teppichen und Decken oder ein mit Pappe benageltes Holzdach aufgesetzt hatten. Aus diesen guckten Kinder, Alte und Schwache heraus. Die Kinder zuversichtlich, ahnungslos, die anderen müde, teilnahmslos, mit fast erloschenen Augen. Die rüstigen Menschen schritten an den Seiten einher, denn die Gäule waren schon vielfach bei den überladenen Wagen abgetrieben. Dazwischen und daneben Handschlitten und Handwagen, die Ziehenden keuchend von der Anstrengung. Fußgänger mit Rucksäcken und Koffern vervollständigten das Bild des Jammers. Und daneben und dazwischen von der Front sich absetzende Soldaten und Trosse. Einen bei mir in Quartier liegenden Feldwebel fragte ich, ob das nicht regellose Flucht sei. „Absetzbewegungen kann man es wohl nennen“, sagte er. Was war nur aus unseren siegreichen Armeen von 1939-1943 geworden!? Die Manneszucht ließ teilweise schon sehr zu wünschen übrig.
Soldaten kamen und gingen, Stäbe rückten ein und zogen aus. Und der Lärm der Kämpfe rückte immer näher. Erkundungsflugzeuge brausten immer öfter über die Dächer des Dorfes. Und dann setzten Anfang Februar Kälte und Schneestürme ein. Alle Stuben, Ställe und Scheunen waren überfüllt. Und es klang hartherzig, wenn man Neuhinzukommende – Soldaten wie Flüchtlinge – abweisen musste, weil eben kein Plätzchen mehr frei war.
Das Durcheinander dauerte so über zwei Wochen lang. Die Front rückte näher an Canditten heran. Von meinem Hof aus konnte ich sehen, wie russische Tiefflieger die Flüchtenden auf den Straßen im Tiefflug beschossen. Ich habe mich sehr gewundert, dass bei den zusammengeballten Zielen so wenig Treffer waren.
Die feindliche schwere Artillerie schoss schon nach Canditten hinein. Buchholz war vom Feinde besetzt, wurde aber wieder von unseren Truppen zurückerobert. Vom Dorf aus konnten wir beobachten, wie ein Gehöft um das andere in Flammen aufging. Die Buchholzer kamen angelaufen und erzählten, dass ihnen die Russen Uhren und andere Dinge geraubt hatten. Dabei wurde auch bekannt, dass eine russische Patrouille den Bauer Paul May von Canditten mitgeschleppt hatte. Natürlich war dies das Signal zum schnelleren Aufbruch. Eines Tages – ich glaube, es war der 12. 02. – kam der Funker des bei mir liegenden Stabes zu mir und rief: „Heute Nachmittag wird Canditten bombardiert!“ Ein so lautender Funkspruch war aufgefangen worden. Nach einer kurzen Zeit kamen dann auch die feindlichen Flugzeuge angebraust, schossen auf das Dorf, aber scheinbar nur mit Bordwaffen. Im Luftschutzkeller war ein furchtbares Getöse zu hören, dazwischen aber auch das Dröhnen der Bombenabwürfe. Nach etwa 45 Minuten war der Hauptangriff vorbei. Viel Schaden hatte es im Dorf aber nicht gegeben, der über dem Ostteil des Dorfes hängende Qualm rührte von der brennenden langen Scheune in Amalienhof her, die mit Getreide nach dem guten Erntejahr 1944 vollgepfropft war.

Nach zwei Tagen treckten die Wildenhoffer mit 37 Wagen durch Canditten. Nun glaubte jeder, der noch zurückgebliebenen Canditter, es sei höchste Zeit, die guten Sachen zu vergraben. Und in Gruben wurden Mehl, Roggen, Fleisch in Gläsern gesenkt, denn man wollte doch nach der Rückkehr etwas zum Essen haben. Und noch törichter war das Verschicken von Sachen auf die Abbauten. Als ob nicht der siegreiche Feind das Dorf gerade von der Seite und den Wäldern her angreifen würde!
0h, wie sah unser schmuckes Dorf nach etwa 20-tägigem Frontgebiet aus! Die Wohnungen und Gehöfte waren verschmutzt, Möbel und Sachen beschädigt auf dem Hofraum, Zäune umgefahren, Chausseebäume umgebrochen, Wagen und Kraftwagen in den Straßengräben. Auf den Gehöften lief das Vieh vor Hunger und Milchfieber brüllend herum; Pferde und Fohlen sah man auf den kahlen Feldern, die mit einer leichten Schneedecke überzogen waren, mit gesenkten Köpfen herumstehen, dem Hungertode geweiht. Wenn auch der Mensch solch schweres Los ertragen muss, er mag gesündigt haben, aber was hat die Kreatur verschuldet? Nichtiges Fragen. Ich mochte in den letzten Tagen vor meiner Flucht schon gar nicht mehr auf die Bauernhöfe gehen, es waren zu schreckliche und schmerzliche Bilder!
Der Beschuss des Dorfes steigerte sich vom 12. 02. 1945 an. Sprengstücke lagen in den Gärten, auf den Gehöften, an den Dorfrändern. Viele Familien hielten noch immer aus, ich nenne nur Schaff, Rausch, Guttzeit, Specht, Steinau, Thiel und May und die meinige. Verstört kamen zu uns die Familien Schmiedemeister Kreuz und Bauunternehmer Neumann aus Landsberg und erzählten, wie es ihnen unter den Russen ergangen war. Dass ein Panzeroffizier nur ein Wort gerufen habe, als er das Haus betrat: „Raus!“; dass alle ausgeplündert und die Mädchen und Frauen vergewaltigt wurden. Der Rektor der Stadtschule irre im Walde verwundet umher. Besonders roh würde sich die russische Soldateska bei Trunkenheit benehmen.
Am Morgen des 14. 02. setzte starker Artilleriebeschuss auf das Dorf ein. Um 07.00 Uhr war Canditten von Soldaten und Flüchtlingen leergefegt. Rund um das Dorf hob eine Infanterie-Einheit Schützengräben aus. Am 13. 02. abends war noch ein Oberleutnant mit 4 Panzern im Dorf. Er sagte zum General: „Ich fahre den Angriff gegen Landsberg, aber ich benötige dringend Brennstoff!“ Der war nicht aufzutreiben, also rollten die schweren Panzer wieder rückwärts. Und ergreifend waren die Worte vom Kommandeur eines Artillerie-Regiments, dem die Tränen über die Backen rollten: „Heute Nacht verschieße ich die letzten Granaten!“ – Und noch immer wollte man Heimat, Heim und Hof nicht verlassen, doch noch immer denkend: Die Russen sind doch auch Menschen.
Da kam am Morgen des 15. 02. 1945 der Divisions-General von Hagenau mit seinem Adjutanten und beanspruchte mein Haus als Gefechtsstand. Er war ganz verwundert, als ich ihm erklärte, dass ich bleiben wolle. Da sagte er wörtlich: „Was ich gestern in der Gemeinde Eichen an verübten Greueltaten gesehen habe, getötete Mädchen und Frauen nach der Schändung, verstümmelte Männer, erschlagene Kinder, da kann ich nur raten: Gehen Sie schnell auf die Flucht!“ Kurz entschlossen wurde nun unser Abmarsch aus dem schönen Heim um Mitternacht zum 16. 02. angesetzt. Mir war nun klar, dass die vielen Opfer auch aus unserer Gemeinde vergeblich gebracht worden waren. Nun musste ich tun, was so viele Bauern vor mir taten. Am Abend des 15. 02. machte ich die Kühe und Ziegen los und warf ihnen noch etwa ein Fuder Heu auf die offene Tenne. Den Hühnern schüttete ich mehrere Kübel Getreide hin. Warum? Sinnlos im Endziel, aber man wollte doch der lieben Kreatur noch einen letzten Liebesdienst erweisen. Besonders schweren Herzens nahm ich von meinem Bienenstand Abschied.
16. Februar 1945, 00.00 Uhr. Der Handwagen mit dem Gepäck von Bettelsleuten rollt aus der Stube, über die Diele, den Hof auf die Chaussee. „Nun sind wir bettelarm, wir kommen hierher nicht mehr zurück!“, so sagte meine Frau. Nicht umsonst sagt man von den feinfühlenden Seelen der Frauen, dass sie Ahnungen von der Zukunft überkommen. So lange wir noch auf der Chaussee in der Gemarkung Canditten waren, hatten wir noch eine Bindung zu unserer geliebten Heimat. Als wir aber die Grenze von Canditten-Klein Steegen überschritten, sprang eine Saite in unserer Seele, die nie mehr voll tönen wird.

Ende der Berichte
