Auf dieser Seite werden Berichte von Canditter Landsleuten und Landsleuten aus den umliegenden Ortschaften gebracht. Es sind Begebenheiten aus der Kindheit und Jugendzeit in der Heimat, aber auch aus der Zeit danach.
Die Berichte werden in lockerer Folge gezeigt und in gewissen zeitlichen Abständen ausgetauscht. Hier nun einige Textbeiträge:
Liebnicken, Kreis Preußisch Eylau
Von Erich Pelikan aus „Ostpreussens Rinder und ihre Zuchtstätten“
Liebnicken ist zur Zeit des Ritterordens den Ordensbrüdern Raffael und Nickel verliehen worden mit der Auflage, „die 32 wüste Huben“ von Sangnitten zu besiedeln.
Liebnicken liegt 150 m über NN im Stablackgebiet am Fuße des Hasenberges, ist systematisch dräniert und hat schwersten Weizenboden.
Ich kaufte im Herbst 1919 bei der Parzellierung die Hofstelle mit 212 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche, davon 25 ha beste Wiesen, 4 ha Holzungen, der Rest Weiden und Ackerland. Lebendes Inventar waren damals: 23 Kühe, 42 Sauen, 24 räudige Gespannpferde und etwas Jungvieh. Kaufpreis 70.000,- Mark.
Am 15. Februar 1945, als der Armeebefehl zum Räumen kam, blieben zurück: 62 Herdbuchkühe (mit rund 4200 Liter Milch Herdendurchschnitt), 40 ein- und zweijährige Sterken, 16 Jungbullen, 1 Zuchtbulle und eine Anzahl Kälber, 10 Edelschweinstammsauen (Stammzucht gegründet 1872), ca. 50 Jungeber und Jungsauen, 24 Gespannpferde (davon 12 Mutterstuten) und zwei Jahrgänge Kaltblutfohlen. Wo das ganze Inventar geblieben ist, weiß ich nicht. Als ich in der letzten Nacht vom Hofe ritt, lag das ganze Vieh draußen im Schnee und in den Stallungen war Militär.
Das war das Ende einer 700-jährigen Kulturperiode-und der Arbeit vieler Generationen.
Erlebnisbericht aus Klein Steegen
Von Marie-Anne Gerlach
Als ich noch in Klein Steegen wohnte, sind wir Marjellens jeden Freitag nach Canditten ins Kino gegangen.
Der Arthur Mai (Diener vom Gut Klein Steegen) gab mir immer sein Fahrrad, um nach Canditten zu kommen.
Im Winter ging´s dann zu Fuß ins Kino. Wenn wir dann kurz vor Canditten auf der Anhöhe der Straße standen und es brannte kein Licht im Kinosaal beim Gastwirt Thiel, dann war meistens der Filmvorführer wegen der hohen Schneewehen nicht durchgekommen. Wir mussten dann ohne Kino wieder zurück nach Klein Steegen.
Ein anderes Mal hatte uns ein Bauer auf dem Heimweg im Schlepp (genau: up der Schleup) mitgenommen. Dabei mussten wir uns gegenseitig festhalten. Das war vielleicht ein Hallo und Gejuche und wir hatten unseren Spaß dabei. Ach ja, waren das noch Zeiten!
Als 1945 unsere Heimat unterging:
Die letzten Tage von Canditten
Von Kantor Gustav Glass, niedergeschrieben 1952
Als ich am Morgen des 13. Januar 1945 den Gang zur Schule antrat, vernahm ich das ununterbrochene Grollen des Trommelfeuers von Osten her. Ich begrüßte meine Schüler mit dem Morgengruß und sagte: „Kinder, jetzt wird um unser Schicksal gewürfelt!“ Aus dem Heeresbericht am Abend hörten wir, dass der Russe auf der ganzen Front zur Offensive angetreten sei. Und bereits am 14. 01. durchschwirrten Hiobsbotschaften die Luft. In den folgenden Tagen war es nicht anders und bald hieß es: Labiau brennt! Wehlau und Tapiau werden vom Feinde berannt! Russische Panzer haben Deutsch Eylau in Richtung Elbing durchfahren! Die Spitzen der russischen Panzerkorps haben Domnau erreicht! Der Canditter Volkssturm, alle Männer bis 60 Jahre, wurde zur Verteidigung des „Heilsberger Dreiecks“ beordert. Denen wurde gesagt, vor ihnen stände Infanterie und Artillerie. Erkundungen ergaben aber, dass nichts zur Verteidigung bereitstand. Der verständige Volkssturmführer schickte seine Männer in die Heimatdörfer zurück. Am Montag, dem 22. 01., wurde die Schule in Canditten geschlossen, an der ich mit Freude 39 Jahre unterrichtet hatte. Die Schulräume wurden zur Aufnahme von Flüchtlingen hergerichtet. Am Abend des 22. 01. begann der Flüchtlingsstrom zu rollen, Tag und Nacht von Landsberg kommend bis zum 14. 02. mit Richtung zum Frischen Haff. Es war ein viel größeres Elends- und Schreckensbild als im Jahre 1914.
Wagen hinter Wagen, die mehr oder minder ein Schutzdach aus Teppichen und Decken oder ein mit Pappe benageltes Holzdach aufgesetzt hatten. Aus diesen guckten Kinder, Alte und Schwache heraus. Die Kinder zuversichtlich, ahnungslos, die anderen müde, teilnahmslos, mit fast erloschenen Augen. Die rüstigen Menschen schritten an den Seiten einher, denn die Gäule waren schon vielfach bei den überladenen Wagen abgetrieben. Dazwischen und daneben Handschlitten und Handwagen, die Ziehenden keuchend von der Anstrengung. Fußgänger mit Rucksäcken und Koffern vervollständigten das Bild des Jammers. Und daneben und dazwischen von der Front sich absetzende Soldaten und Trosse. Einen bei mir in Quartier liegenden Feldwebel fragte ich, ob das nicht regellose Flucht sei. „Absetzbewegungen kann man es wohl nennen“, sagte er. Was war nur aus unseren siegreichen Armeen von 1939-1943 geworden!? Die Manneszucht ließ teilweise schon sehr zu wünschen übrig.
Soldaten kamen und gingen, Stäbe rückten ein und zogen aus. Und der Lärm der Kämpfe rückte immer näher. Erkundungsflugzeuge brausten immer öfter über die Dächer des Dorfes. Und dann setzten Anfang Februar Kälte und Schneestürme ein. Alle Stuben, Ställe und Scheunen waren überfüllt. Und es klang hartherzig, wenn man Neuhinzukommende – Soldaten wie Flüchtlinge – abweisen musste, weil eben kein Plätzchen mehr frei war.
Das Durcheinander dauerte so über zwei Wochen lang. Die Front rückte näher an Canditten heran. Von meinem Hof aus konnte ich sehen, wie russische Tiefflieger die Flüchtenden auf den Straßen im Tiefflug beschossen. Ich habe mich sehr gewundert, dass bei den zusammengeballten Zielen so wenig Treffer waren.
Die feindliche schwere Artillerie schoss schon nach Canditten hinein. Buchholz war vom Feinde besetzt, wurde aber wieder von unseren Truppen zurückerobert. Vom Dorf aus konnten wir beobachten, wie ein Gehöft um das andere in Flammen aufging. Die Buchholzer kamen angelaufen und erzählten, dass ihnen die Russen Uhren und andere Dinge geraubt hatten. Dabei wurde auch bekannt, dass eine russische Patrouille den Bauer Paul May von Canditten mitgeschleppt hatte. Natürlich war dies das Signal zum schnelleren Aufbruch. Eines Tages – ich glaube, es war der 12. 02. – kam der Funker des bei mir liegenden Stabes zu mir und rief: „Heute Nachmittag wird Canditten bombardiert!“ Ein so lautender Funkspruch war aufgefangen worden. Nach einer kurzen Zeit kamen dann auch die feindlichen Flugzeuge angebraust, schossen auf das Dorf, aber scheinbar nur mit Bordwaffen. Im Luftschutzkeller war ein furchtbares Getöse zu hören, dazwischen aber auch das Dröhnen der Bombenabwürfe. Nach etwa 45 Minuten war der Hauptangriff vorbei. Viel Schaden hatte es im Dorf aber nicht gegeben, der über dem Ostteil des Dorfes hängende Qualm rührte von der brennenden langen Scheune in Amalienhof her, die mit Getreide nach dem guten Erntejahr 1944 vollgepfropft war.
Nach zwei Tagen treckten die Wildenhoffer mit 37 Wagen durch Canditten. Nun glaubte jeder, der noch zurückgebliebenen Canditter, es sei höchste Zeit, die guten Sachen zu vergraben. Und in Gruben wurden Mehl, Roggen, Fleisch in Gläsern gesenkt, denn man wollte doch nach der Rückkehr etwas zum Essen haben. Und noch törichter war das Verschicken von Sachen auf die Abbauten. Als ob nicht der siegreiche Feind das Dorf gerade von der Seite und den Wäldern her angreifen würde!
0h, wie sah unser schmuckes Dorf nach etwa 20-tägigem Frontgebiet aus! Die Wohnungen und Gehöfte waren verschmutzt, Möbel und Sachen beschädigt auf dem Hofraum, Zäune umgefahren, Chausseebäume umgebrochen, Wagen und Kraftwagen in den Straßengräben. Auf den Gehöften lief das Vieh vor Hunger und Milchfieber brüllend herum; Pferde und Fohlen sah man auf den kahlen Feldern, die mit einer leichten Schneedecke überzogen waren, mit gesenkten Köpfen herumstehen, dem Hungertode geweiht. Wenn auch der Mensch solch schweres Los ertragen muss, er mag gesündigt haben, aber was hat die Kreatur verschuldet? Nichtiges Fragen. Ich mochte in den letzten Tagen vor meiner Flucht schon gar nicht mehr auf die Bauernhöfe gehen, es waren zu schreckliche und schmerzliche Bilder!
Der Beschuss des Dorfes steigerte sich vom 12. 02. 1945 an. Sprengstücke lagen in den Gärten, auf den Gehöften, an den Dorfrändern. Viele Familien hielten noch immer aus, ich nenne nur Schaff, Rausch, Guttzeit, Specht, Steinau, Thiel und May und die meinige. Verstört kamen zu uns die Familien Schmiedemeister Kreuz und Bauunternehmer Neumann aus Landsberg und erzählten, wie es ihnen unter den Russen ergangen war. Dass ein Panzeroffizier nur ein Wort gerufen habe, als er das Haus betrat: „Raus!“; dass alle ausgeplündert und die Mädchen und Frauen vergewaltigt wurden. Der Rektor der Stadtschule irre im Walde verwundet umher. Besonders roh würde sich die russische Soldateska bei Trunkenheit benehmen.
Am Morgen des 14. 02. setzte starker Artilleriebeschuss auf das Dorf ein. Um 07.00 Uhr war Canditten von Soldaten und Flüchtlingen leergefegt. Rund um das Dorf hob eine Infanterie-Einheit Schützengräben aus. Am 13. 02. abends war noch ein Oberleutnant mit 4 Panzern im Dorf. Er sagte zum General: „Ich fahre den Angriff gegen Landsberg, aber ich benötige dringend Brennstoff!“ Der war nicht aufzutreiben, also rollten die schweren Panzer wieder rückwärts. Und ergreifend waren die Worte vom Kommandeur eines Artillerie-Regiments, dem die Tränen über die Backen rollten: „Heute Nacht verschieße ich die letzten Granaten!“ – Und noch immer wollte man Heimat, Heim und Hof nicht verlassen, doch noch immer denkend: Die Russen sind doch auch Menschen.
Da kam am Morgen des 15. 02. 1945 der Divisions-General von Hagenau mit seinem Adjutanten und beanspruchte mein Haus als Gefechtsstand. Er war ganz verwundert, als ich ihm erklärte, dass ich bleiben wolle. Da sagte er wörtlich: „Was ich gestern in der Gemeinde Eichen an verübten Greueltaten gesehen habe, getötete Mädchen und Frauen nach der Schändung, verstümmelte Männer, erschlagene Kinder, da kann ich nur raten: Gehen Sie schnell auf die Flucht!“ Kurz entschlossen wurde nun unser Abmarsch aus dem schönen Heim um Mitternacht zum 16. 02. angesetzt. Mir war nun klar, dass die vielen Opfer auch aus unserer Gemeinde vergeblich gebracht worden waren. Nun musste ich tun, was so viele Bauern vor mir taten. Am Abend des 15. 02. machte ich die Kühe und Ziegen los und warf ihnen noch etwa ein Fuder Heu auf die offene Tenne. Den Hühnern schüttete ich mehrere Kübel Getreide hin. Warum? Sinnlos im Endziel, aber man wollte doch der lieben Kreatur noch einen letzten Liebesdienst erweisen. Besonders schweren Herzens nahm ich von meinem Bienenstand Abschied.
16. Februar 1945, 00.00 Uhr. Der Handwagen mit dem Gepäck von Bettelsleuten rollt aus der Stube, über die Diele, den Hof auf die Chaussee. „Nun sind wir bettelarm, wir kommen hierher nicht mehr zurück!“, so sagte meine Frau. Nicht umsonst sagt man von den feinfühlenden Seelen der Frauen, dass sie Ahnungen von der Zukunft überkommen. So lange wir noch auf der Chaussee in der Gemarkung Canditten waren, hatten wir noch eine Bindung zu unserer geliebten Heimat. Als wir aber die Grenze von Canditten-Klein Steegen überschritten, sprang eine Saite in unserer Seele, die nie mehr voll tönen wird.