1. Die desolate und ungewisse Zeit nach dem 08. Mai 1945
Der unselige Krieg war zu Ende. Die Einwohner von Canditten waren vor den sowjetrussischen Truppen in Richtung Westen geflüchtet oder von diesen erschossen worden. Canditten lag jetzt wie ausgestorben in einer verwüsteten Landschaft. Im Dorf selbst und auf manchen Höfen lebten nur noch einzelne Canditter Einwohner. Die meisten davon waren Rückkehrer von der Flucht im Februar 1945. Das einst so schöne und wirtschaftlich blühende Dorf lag brach darnieder.
Der Frühling und der Sommer 1945 waren in Canditten sehr heiß. Ringsum im Dorf und auf den Abbauhöfen viele verwesende Leichen von Canditter Einwohnern und deutschen Soldaten sowie Tierkadaver, die von den Canditter begraben bzw. notdürftig verscharrt wurden.
Die paar Rest-Canditter versuchten, sich einige wenige Habseligkeiten zum Leben zu beschaffen und den Haushalt einigermaßen zu ordnen. Es gab keine Gemeindeverwaltung mehr, kein Geschäft zum Einkaufen, keine Schule, keine Kirche (war zerstört), kein Arzt, keinen elektrischen Strom – nichts. Alles öffentliche Leben war erloschen.
Die als Besatzer im Dorf verbliebenen sowjetrussischen Soldaten hatten das Kommando über alles; Plünderungen und Gewalt waren an der Tagesordnung. Die Deutschen mussten für die Russen arbeiten. Viele Deutsche starben an Hunger, Krankheit oder an den Folgen der Misshandlungen durch die Besatzer.
Die Deutschen – und hier waren es völlig unschuldige Canditter Einwohner – mussten jetzt den Tribut für den katastrophalen Krieg zahlen.
Aber sie gaben die Hoffnung nicht auf. Sie glaubten damals noch an den Verbleib in ihrer Heimat, an eine neue deutsche Verwaltung und an den Aufbau eines funktionierenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Doch diese Hoffnung war vergeblich.
2. Die ersten Polen in Canditten Herbst 1945
Die sowjetrussischen Soldaten zogen im September/Oktober 1945 aus Canditten ab. Etwa gleichzeitig, also im Herbst 1945, kamen die ersten polnischen „Siedler“ nach Canditten. Sie belegten, zum Teil unter Aufsicht der polnischen Miliz, die Wohnhäuser und Bauernhöfe in Canditten und in den umgebenden Dörfern. Die neuen Bewohner kamen teilweise aus dem Kernland Polens, aber zum größten Teil aus Litauen (Wilna-Polen), Weißrussland und der Ukraine, alles Gebiete, wo die polnisch-stämmige Bevölkerung nicht mehr geduldet war und mehr oder weniger vertrieben wurde.
3. Canditten wird eine polnische Gemeinde 1946 (jetzt Kandyty)
Am 28. 06. 1946 entstand in Canditten eine polnische Gemeinde mit einer eigenen Kommunalverwaltung. Der erste polnische Bürgermeister hieß Stanislaw Dasewicz. Die Gemeinde hieß ab jetzt Kandyty und war Sitz einer Großgemeinde, die auch Augam/Augamy, Quehnen/Kiwajny, Sangnitten/Sagniyty undWorschienen/Worszyny mit einer Gesamtgröße von 10.885 ha umfasste.
Im selben Jahr 1946 wurde eine polnische Grundschule eingerichtet. Im Dorf begann wieder so etwas wie Gemeinschaftsleben, allerdings mit einer anderen Sprache und einer anderen Mentalität.
Einige der Rest- Deutschen aus Canditten gingen nach Wildenhoff, um dort auf dem jetzt polnisch verwalteten Gut zu arbeiten.
Im Jahre 1947 trafen zahlreiche aus dem Südosten Polens stammende Ukrainer polnischer Nationalität ein und belegten weitere Häuser und Gehöfte in Canditten/Kandyty. Die griechisch-katholischen Ukrainer waren aufgrund der „Aktion Weichsel“ aus ihrem Heimatgebieten vertrieben worden; vgl. hierzu „Preußisch Eylauer Kreisblatt“ Nr. 83, Seiten 68 ff.
Im selben Jahr 1947 wurde in Canditten/Kandyty ein kleiner Kindergarten eingerichtet.
Die in Canditten wohnenden Deutschen waren nun eine Minderheit in ihrem eigenen Dorf. Das hatte Folgen für ihre Zukunft. Die polnischen Behörden zwangen die Deutschen, die polnische Nationalität per Unterschrift anzunehmen. Falls diese nicht angenommen wurde, drohten die Behörden mit Ausweisung aus dem jetzt polnischen Machtbereich. Einzelne hatten unterschrieben, die allermeisten nicht.
Die Deutschen, die eine polnische Staatsbürgerschaft verweigerten, wurden binnen weniger Tage mit dem LKW nach Heilsberg gebracht, dort in Güterwaggons gesteckt und unter Milizbewachung mit Güterzügen in die damalige Sowjetische Besatzungszone transportiert. Diese Vertreibungsaktion umfasste die Zeitspanne von 1946 bis 1948. Danach gab es keinen Einwohner mehr mit deutscher Nationalität in Canditten/Kandyty.
Das Leben in Canditten/Kandyty war für die jetzt polnische Bevölkerung schwer zu bewältigen. Der richtige Mut und das erforderliche Engagement für den Aufbau einer gut funktionierenden Landwirtschaft und eines florierenden Dorflebens fehlten.
Das hatte mehrere Gründe: Zum einen war die neu errichtete russische Grenze in unmittelbarer Nähe. Das schreckte die Polen ab. Zum anderen war es die ständige Ungewissheit, ob die Deutschen nun zurückkommen oder nicht und somit alle Arbeit umsonst war. Und schließlich wurde die polnische Bevölkerung vom kommunistischen Machtapparat geleitet und überwacht. Das machte ängstlich und ließ die Menschen in Lethargie verfallen.
In den Jahren 1954 bis 1972 war Canditten/Kandyty Sitz eines Volksrates.
In den 60-er Jahren entstand ein Gesundheitszentrum mit einer kleinen Apotheke. Auch einige Ladengeschäfte und eine Gastwirtschaft wurden betrieben.
Ab etwa 1974 kamen die ersten ehemaligen Canditter aus der Bundesrepublik und besuchten ihr Heimatdorf. Die Auflagen für die deutschen Besucher waren eine Einladung zum Besuch, ein gültiges Visum und Anmeldung im Rathaus Landsberg/Gorowo Ilaweckie. Die ersten zaghaften Kontakte mit den polnischen Einwohnern, die jetzt im Elternhaus der Deutschen wohnten, kamen zustande.
4. Kommunale Neugliederung im Jahre 1976
Am 15. 01. 1976 trat ein neues Kommunalgesetz in Kraft. Die Gemeinde Canditten/Kandyty wurde ab jetzt in eine Großgemeinde eingegliedert. Diese Großgemeinde umfasste alle Gemeinden und Ortsteile rings um die Stadt Landsberg/Gorowo Ilaweckie und hieß ab jetzt „Gmina Gorowo Ilaweckie“ (auf deutsch etwa: Gemeinde Landsberg Land). Das neue Gemeindeamt hatte seinen Sitz in Landsberg/Gorowo Ilaweckie. Das Dorf Canditten/Kandyty bekam einen Dorfbürgermeister, der dem Bürgermeister der Großgemeinde „Gmina Gorowo Ilaweckie“ unterstellt war. Die Großgemeinde „Gmina Gorowo Ilaweckie“ gehörte zur Wojewodschaft Allenstein/Olsztyn.
Im selben Jahr 1976 wurde ein neues und für die dortigen Verhältnisse zu großes Schulgebäude gebaut (Plattenbau), um die Schüler des Dorfes und der umgebenden Ortschaften aufzunehmen.
Im Dorf waren jetzt eine Grundschule, ferner Post, Clubhaus, Bibliothek, Apotheke, Veterinärstation, Kindergarten, Restaurant, Bauunternehmen, Schmiede, Sportplatz, Kino, Friedhof, mehrere Geschäfte u. v. a. m.
Da die Canditter Kirche durch sowjetrussischen Beschuss im Februar 1945 bis auf die Grundmauern zerstört war, fand der polnische (also katholische) Gottesdienst im ehemaligen Pfarrhaus von Canditten/Kandyty statt.
In den Jahren 1980-1981 wurde auf den Grundmauern der alten Kirche eine neue Kirche erbaut, die im Baustil ähnlich ist wie das bisherige Gotteshaus. Die feierliche Einweihung war 1981.
Anfang der 80-er Jahre fand die erste Busreise der in der Bundesrepublik lebenden Canditter und anderer Landsleute nach Ostpreußen und in das Heimatdorf Canditten statt. Landsmann Ortwin Mey hatte die Organisation übernommen. Es sollten noch viele weitere Fahrten folgen.
Das Dorf bekam 1983 eine Straßenbeleuchtung. Es hatte jetzt 535 Einwohner.
5. Die Entwicklung nach der Wende Anfang der 90-er Jahre bis jetzt
Nach der Wende wurde der kommunistische Machtapparat aufgelöst. Die Kommunalbehörden wurden neu besetzt. Die Großgemeinde „Gmina Gorowo Ilaweckie“ und das Dorf Canditten/Kandyty behielten ihren bisherigen Status.
Der Wechsel vom kommunistischen Staatsapparat zum demokratischen Staatsgefüge hatte für die Polen in Canditten/Kandyty Vor- und Nachteile.
Die Nachteile waren der ungewohnte Umgang mit der Marktwirtschaft. So gingen die Landwirtschaftlichen Genossenschaften in der Region sowie zahlreiche kleinere (seinerzeit) staatsgelenkte Unternehmen zugrunde und die privaten Bauern hatten große Probleme mit dem Verkauf ihrer landwirtschaftlichen Produkte. Kurzum: Die in einer Demokratie notwendigen volkswirtschaftlichen Abläufe waren noch gar nicht in Gang gekommen. Es fehlten Geld (das war zu teuer), Genossenschaften für die Bauern, Abnahmestellen für die Landwirtschaftsprodukte, der dazu gehörende Handel, Investoren für neue Betriebe – und es fehlte aufgrund der unmittelbaren Grenznähe die Motivation. Viele verließen die hiesigen Ortschaften und versuchten ihr Heil in den Städten und Deutschstämmige zog es nach Deutschland.
Die Vorteile waren der freie Zugang zu den westlichen Ländern und die Möglichkeit, dort mit Saisonarbeit Geld zu verdienen und den Lebensstandard zu verbessern.
Aufgrund der Schulreform in Polen im Jahre 1999 wurden in Canditten/Kandyty eine 6-zügige Grundschule und eine 3-zügige Realschule (polnisch Gimnacjum) eingerichtet.
Im Sommer 1999 erste Kontakte der ehemaligen Canditter mit dem Ortsbürgermeister Henryk Baran und dem Rektor des Gimnacjums Kandyty (Realschule), Herrn Jozef Kawa. Im Mai 2000 Busfahrt der Canditter Gruppe nach Canditten/Kandyty, gemeinsamer ökumenischer Gottesdienst in der Kirche, anschließend gemeinsames Dorffest mit den polnischen Einwohnern auf dem Schulgelände.
In enger Zusammenarbeit mit dem Schuldirektor Jozef Kawa wurde in den Jahren 2001 und 2002 der ehemalige und bis dahin völlig verwahrloste Westfriedhof in Canditten/Kandyty gesäubert und mit polnischen und deutschen Spenden ein Ehrenfriedhof mit Gedenkstein zur Erinnerung an unsere Toten eingerichtet – ein bemerkenswerter Akt der Annäherung und Verständigung. Die gemeinsame Einweihung fand am 08. 06. 2002 unter Teilnahme einer großen Öffentlichkeit statt.
Weitere Busreisen der Canditter Gruppe in unser Heimatdorf wurden 2003, 2004, 2006. 2008 und 2010 mit ökumenischem Gottesdienst und gemeinsamen Dorffesten durchgeführt.
Ferner haben – ebenfalls in Abstimmung mit dem polnischen Schuldirektor Jozef Kawa – in den Jahren 2001, 2002 und 2005 polnische Schüler aus Canditten/Kandyty eine Ferienfreizeit bei deutschen Gastfamilien verbracht – eine anerkannt erfolgreiche Aktion für die Verständigung zwischen den Deutschen und den Polen.
In den letzten Jahren, etwa seit 1999, sind zahlreiche neue Kontakte der ehemaligen Canditter mit polnischen Privatpersonen in Canditten/Kandyty entstanden. Auch die Kontakte zum Schuldirektor, zu einzelnen polnischen Lehrern sowie zur Bürgermeisterin der Großgemeinde, Frau Bozena Olszewska-Switaj, wurden aufgebaut bzw. weiterentwickelt.
Das Dorf hatte im Jahre 2009 genau 611 Einwohner (im Vergleich zu 1939 = 930 Einwohner) und eine Gesamtfläche von 1070 ha (im Vergleich zu 1939 = 1.347,80 ha). Im Dorf selbst befinden sich jetzt eine Kirche, zwei Schulen (Grundschule und Realschule), zwei Geschäfte, ein Gesundheitszentrum mit Apotheke, eine Transportfirma, ein Catering-Unternehmen, ein Feuerwehrhaus und eine Försterei. Auch ein Landfrauenverein hat sich gegründet.
Die Großgemeinde „Gmina Gorowo Ilaweckie“ und somit auch die Gemeinde Canditten/Kandyty gehören jetzt zum Kreis Bartenstein/Bartoszyce.